Wirtschaftsethnologie und Politische Anthropologie - Staatenbildung und die Ökonomie von Kula und Potlatch

Marcel Mauss

Marcel Mauss* 10. Mai 1872 in Épinal; † 10. Februar 1950 in Paris. Marcel Mauss stammte aus einer jüdischen Familie, die eine kleine Seidenstickermanufaktur in den Vogesen betrieb. Vierzehn Jahre lang war sein Onkel, Émile Durkheim, sein Mentor.

E. Evans-Pritchard über Marcel Mauss

Emile Dürkheims Neffe und hervorragendster Schüler, war ein Mann von ungewöhnlichen Fähigkeiten und Kenntnissen, von großer Integrität und strengen Überzeugungen.

Nach Dürkheims Tod galt er als die führende Gestalt in der französischen Soziologie. Seine Reputation war eng mit dem Schicksal der Armee Soziologique verbunden, die er zusammen mit seinem Onkel gegründet und berühmt gemacht hatte. Einige der anregendsten und originellsten Beiträge in ihren früheren Nummern schrieb er in Zusammenarbeit mit Dürkheim, Hubert und Beuchat: »Essai sur la nature et la fonction du sacrifice« (1899), »De quelques formes primitives de Classification: contribution k l'etude des representations collectives« (1903), »Esquisse d'une theorie generale de la magie« (1904), und »Essai sur les variations saisonnieres des societes eskimos: etude de morphologie sociale« (1906).

Erster Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg riss große Lücken in das Team brillanter junger Gelehrter, die Dürkheim gelehrt, inspiriert und um sich geschart hatte; sein Sohn André Dürkheim, Robert Hertz, An-toine Bianconi, Georges Gelly, Maxime David, Jean Reynier fielen, und der Meister überlebte sie nicht, er starb 1917. Unter glücklicheren Umständen hätte uns Mauss sicher mehr Zeugnisse seiner Gelehrsamkeit, seines unermüdlichen Fleißes und seiner methodischen Meisterschaft hinterlassen. Aber er schrieb nicht nur über soziale Solidarität und kollektive Gefühle, er brachte sie in seinem ganzen Leben zum Ausdruck. Für ihn hatte die Gruppe um Dürkheim, seine Schüler und Kollegen eine Art Kollektivgeist, der sich in der Armee Socio-logique, seinem Produkt, repräsentierte. Und wenn man anderen gehört und nicht sich selbst, was eines der Themen, viel- leicht das Grundthema des hier vorliegenden Buches ist, dann drückt man seine Zugehörigkeit dadurch aus, dass man die eigenen Ambitionen dem gemeinsamen Interesse unterordnet. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich mit Mauss zusammentraf, gewann ich den Eindruck, dass er in dieser Weise dachte und fühlte, und seine Handlungen bestätigten es. Er lud die Arbeit seiner toten Kollegen auf sich. Selbstlos - denn es bedeutete die Vernachlässigung der eigenen Forschungen -übernahm er die schwierige Aufgabe, die hinterlassenen Schriften von Dürkheim, Hubert (der 1927 starb), Hertz und anderen zu edieren, zu vervollständigen und zu publizieren. Er übernahm auch 1923/24 die noch schwierigere Aufgabe, die ihm ans Herz gewachsene Annie Sociologique, die nach 1913 ihr Erscheinen eingestellt hatte, wieder ins Leben zu rufen. Das bedeutete eine zusätzliche Bürde und lenkte ihn noch mehr von seinen eigenen Interessengebieten ab.

Soziologische Forschung

Mauss war Sanskrit-Forscher und Religionshistoriker, er war zugleich Soziologe, und sein Hauptinteresse lag während seines ganzen Lebens auf dem Gebiet der vergleichenden Religionsforschung und der Religionssoziologie. Aber er spürte, dass die neue Serie der Armee Sociologique gleich der älteren sämtliche Zweige der soziologischen Forschung erfassen musste, und das konnte sie nur, wenn er selbst sich aller jener Gebiete annahm, die nicht seine eigenen, sondern die Spezialgebiete jener waren, die nicht mehr lebten. Deshalb schrieb er von nun an zwar viele Rezensionen und Artikel, aber nur drei wichtigere Werke: »Essai sur le don, forme et raison de P&hange dans les societes archaiques« (1925), »Fragment d'un plan de sociologie generale descriptive« (1934), und »Une catégorie de l'esprit hu-main: la notion de personne, Celle de >moi< « (1938). Die geplanten Arbeiten über das Gebet, über das Geld und über den Staat blieben unvollendet. Auch die zweite Serie der Armee Sociologique musste aufgegeben werden, aber eine dritte Serie wurde 1934 begonnen. Dann kam der Zweite Weltkrieg. Paris wurde von den Deutschen besetzt. Mauss, der Jude war, blieb zwar unbehelligt, aber einige seiner engsten Kollegen und Freunde, unter ihnen Maurice Halbwachs, wurden umgebracht. Zum zweiten Mal sah er alles rings um sich zusammenbrechen. Hinzu kamen andere, persönliche Schwierigkeiten, und sein Geist versank in Umnachtung.

Soziologischen Denkens

Es ist hier nicht der Ort, die Rolle, die Maus für die Entwicklung des soziologischen Denkens in Frankreich spielte, kritisch zu würdigen - das haben in hervorragender Weise schon Henri Levy-Bruhl und Claude Levi-Strauss getan 1.

Erforderlich ist nur ein kurzer Hinweis auf die Bedeutung seines Werkes und insbesondere seines »Essai sur le don«.

Mauss stand in der philosophischen Tradition, die von Montesquieu über die Philosophen der Aufklärung - Turgot, Condor-cet, St, Simon - zu Comte und dann zu Dürkheim führte, einer Tradition, in welcher Schlussfolgerungen eher durch die Analyse WO Begriffen als von Tatsachen erreicht wurden; die Tatsachen dienten nur zur Illustration von Formulierungen, zu denen man durch andere als induktive Methoden gelangte. Mauss war jedoch weniger Philosoph als Dürkheim. In allen seinen Essays wendet er sich zuerst den konkreten Tatsachen zu und prüft sie in ihrer Gesamtheit und bis zum letzten Detail. Das war der Kernpunkt eines glänzenden Vortrags über Mauss, den einer seiner ehemaligen Schüler, Louis Dumont, vor einigen Jahren hielt. Dumont hob hervor, dass Mauss, obwohl er aus Loyalität und Zuneigung sorgsam jede Kritik an Dürkheim vermied, solche Kritik dennoch implizit in seinen Schriften übte: sie sind um so viel mehr empirisch als diejenigen Dürkheims, dass man sagen kann, mit Mauss habe die Soziologie in Frankreich ihr experimentelles Stadium erreicht.

Anthropologische Feldforscher

Mauss wollte jeweils nur einen begrenzten Tatsachenbereich kennenlernen und ihn dann verstehen, und was er mit Verstehen meint, kommt in seinem Essay über die Gabe sehr deutlich zum Ausdruck. Es bedeutet, soziale Phänomene so, wie Dürkheim es lehrte, in ihrer Totalität zu sehen. Total ist das Schlüsselwort dieses Essays. Der Austausch in archaischen Gesellschaften, den er untersucht, ist eine totale gesellschaftliche Tätigkeit. Er ist zur gleichen Zeit ein ökonomisches, juristisches, moralisches, ästhetisches, religiöses, mythologisches und sozio-morphologisches Phänomen. Seine Bedeutung können wir deshalb nur erfassen, wenn wir ihn als eine konkrete, komplexe Realität sehen; und wenn wir gewohnt sind, beim Studium einer Institution abstrahierend vorzugehen, dann müssen wir am Ende das, was wir hinweggenommen haben, wieder ersetzen, um sie verstehen zu können. Welche Mittel aber helfen uns, zum Verständnis der Institutionen zu gelangen? Es sind jene, die der anthropologische Feldforscher verwendet, wenn er das gesellschaftliche Leben von außen wie von innen untersucht: von außen her als Anthropologe, und von innen her, indem er sich selbst mit den Mitgliedern der von ihm untersuchten Gesellschaft identifiziert. Mauss hat gezeigt, dass man dies, wenn nur genügend gut dokumentiertes Material vorliegt, tun kann, ohne seine Gelehrtenstube zu verlassen. Er versenkte sich in alles erreichbare ethnographische und linguistische Material, aber er konnte nur deswegen erfolgreich sein, weil er ein Meister der soziologischen Methode war. Er tat bei seinen Forschungen am Schreibtisch, was ein Anthropologe im Feld tut, nämlich mit einem geschulten Verstand das Leben primitiver Völker beobachtend und erlebend zu erfassen. Wir Sozialanthropologen betrachten ihn deshalb als einen von uns. Um »totale« Phänomene in ihrer Totalität zu verstehen, ist es notwendig, sie zuerst kennenzulernen. Man muss ein Fachmann sein. Es genügt nicht, die Schriften anderer über die Vorstellungen und Gebräuche der alten Indianer oder der alten Römer zu lesen. Man muss fähig sein, geradewegs zu den Quellen zu gehen, denn man muss damit rechnen, dass Gelehrte, die mit der soziologischen Methode nicht vertraut waren, in den von ihnen behandelten Tatsachen gerade jene Momente, die von soziologischer Signifikanz sind, nicht gesehen haben.

Sprachgenie

Die Soziologie, die die Tatsachen in ihrer Totalität sieht, sieht sie anders. Mauss ging zu den Quellen. Er hatte nicht nur ausgezeichnete Kenntnisse in vielen europäischen Sprachen, einschließlich des Russischen, er war auch ein hervorragender Kenner des Griechischen, des Lateinischen, des Sanskrit, des Keltischen und des Hebräischen; und er war ein brillanter Soziologe. Er konnte Spezialisten des Sanskrit wie des römischen Rechts, wohl zu deren eigener Überraschung, vieles lehren, von dem sie nicht wussten, dass es in ihren Texten stand. Was er in seinem >Essai sur le don< über die Bedeutung bestimmter Formen des Austauschs im alten Indien und im alten Rom sagt, ist ein Beispiel dafür. Vielleicht noch bemerkenswerter ist, dass er anhand von Malinowskis eigenem Bericht über die Trobriander zu zeigen vermochte, wo dieser die Institutionen der Trobriander missverstanden oder nicht adäquat interpretiert hatte. Er konnte dies dank seiner gründlichen Kenntnisse (die Malinowski nicht besaß) über ozeanische Sprachen und die Eingeborenengesellschaften von Melanesien, Polynesien, Amerika usw., Kenntnisse, die ihn dazu befähigten, durch ein vergleichendes Studium primitiver Institutionen zu deduzieren, was der Feldforscher selbst nicht beobachtet hatte.

Essai sur le don

Der >Essai sur le don< ist nicht nur von großem methodischen Wert, er ist auch sehr wichtig für das Verständnis von Mauss und für die Beurteilung seiner Bedeutung als Gelehrter, da die meisten seiner anderen bekannteren Essays nicht von ihm allein stammen. Vor allem aber ist er die erste systematische und vergleichende Studie über das weit verbreitete System des Geschenkaustauschs und die erste Deutung seiner Funktion im Bezugsrahmen der gesellschaftlichen Ordnung. Mauss zeigt hier, was die eigentliche Natur und fundamentale Bedeutung solcher Institutionen wie des Potlatch und des Kula ist, die uns auf den ersten Blick befremdlich oder sogar sinnlos und unverständlich erscheinen. Und wenn er uns zeigt, wie sie zu verstehen sind, erschließt er uns nicht nur den Sinn bestimmter Bräuche, etwa der nordamerikanischen Indianer, sondern zugleich den Sinn analoger Bräuche in früheren Phasen der überlieferten Geschichte und überdies den Sinn von Praktiken unserer eigenen Gesellschaften in der gegenwärtigen Zeit.

Der Vergleich (oder die Gegenüberstellung) von archaischen Institutionen, über die er schreibt, und unseren eigenen ist in seinem ganzen Essay implizit enthalten. Er fragt nicht nur, wie wir diese archaischen Institutionen verstehen können, er fragt zugleich, wie ihr Verständnis uns helfen kann, unsere eigenen um so tiefer zu erfassen und vielleicht zu verbessern. Nirgendwo kommt dies deutlicher zum Ausdruck als dort, wo Mauss uns sehr ausdrücklich sagt, wieviel wir - was immer wir auch sonst gewonnen haben mögen - dadurch verloren haben, dass wir ein rationales ökonomisches System an die Stelle eines Systems setzten, in welchem der Austausch von Gütern keine mechanische, sondern eine moralische Transaktion war die menschliche, persönliche Beziehungen zwischen Individuen und zwischen Gruppen herstellte und aufrecht erhielt. Wir nehmen unsere eigenen gesellschaftlichen Einrichtungen als selbstverständlich hin und bedenken selten, wie jung viele von ihnen sind und als wie ephemer sich viele erweisen werden. Die Menschen, gibt uns Mauss zu bedenken, hatten zu anderen Zeiten und haben in vielen Teilen der Welt noch immer andere Ideen, Werte und Bräuche als wir, aus deren Studium wir vieles lernen können, das für uns so wertvoll ist.

1 H. Levy-Bruhl, »In Memoriam: Marcel Mauss«, Atmet Sociologique, 3. Serie, 1948/49. C. Levi-Strauss, »La Sociologie francaise«, in La sociologic au XXe siecle, 1947,

Literatur: Marcel Mauss: Die Gabe, Suhrkamp Wissenschaft 1984


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